30 Jahre Wien Modern

Das Festival Wien Modern feiert heuer sein 30-jähriges Jubiläum. Bernhard Günther hat die künstlerische Leitung des Festivals 2016 übernommen und konnte mit dem Programm zu „letzten Fragen“ und rund verdreifachten Karteneinnahmen eine vorläufige Bestmarke setzen. Für die Jubiläumsausgabe hat der Experte für zeitgenössische ein vielfältiges Programm unter dem Titel „Bilder im Kopf“ zusammengestellt.  Von 31.10. bis 01.12.2017 rückt Wien Modern die Kraft der Imagination in den Mittelpunkt.

Neue Besen kehren gut. Woran liegt es, dass Sie gleich im ersten Jahr Ihrer Intendanz die Publikumsauslastung massiv steigern konnten?
BERNHARD GÜNTHER: Für ein Festival dieser Größe mit inzwischen über 100 sehr unterschiedlichen Veranstaltungen gibt es kein Coca-Cola-Rezept. Aber zwei Dinge braucht es wohl: Man muss erstens viele Menschen dafür begeistern, von Partnerinstitutionen bis zum Publikum. Das Wiener Konzerthaus hat 2016 ungewöhnlich viele Karten mit verkauft, wir hatten die Wiener Philharmoniker und viele weitere Partner in der Stadt, die mit angepackt haben. Zweitens muss man das, was man da anbietet, selbst lieben und daran glauben. Wir haben uns getraut, 14 Konzerte in Sälen mit 500 bis 2.000 Plätzen ins Programm zu nehmen. Und ich denke, viele Menschen haben gespürt, dass Wien Modern diese zeitgenössische Musik mit echter Leidenschaft veranstaltet.

Wie groß ist das Potenzial an KonzertbesucherInnen, wie kann man neue Publikumsschichten erreichen?
GÜNTHER: Von den 1,9 Millionen Wienerinnen und Wienern (1 Million im Umland und 500.000 Touristen im November noch nicht mitgezählt) gehen mehr als ¾ in Konzerte, mehr als die Hälfte auf Festivals, 13% musizieren sogar selbst. Wir bieten heuer um die 20.000 Karten an, es könnte in ein paar Jahren locker ein Mehrfaches sein. Dafür muss man allerdings mehr Großproduktionen mit mehr Aufführungen zeigen als heute, deutlich mehr in Kommunikation investieren und Team und Infrastruktur des Festivals aus dem Bereich von zwei, drei Personen plus Saisonkräfte heraus bekommen. All das braucht mehr Budget, als aktuell in Sicht ist. Lohnen würde es sich.

Ist die Moderne angekommen, ist zeitgenössische Musik gleichbedeutend wie andere Genres?
GÜNTHER: Wien ist zwar in Szene und Publikum vermutlich Weltspitze. Aber bis die neue Musik die ganzen uralten Klischees los wird, die verhindern, dass sie wirklich „ankommt“, braucht es noch sehr viel Arbeit. Viele Menschen denken als Erstes immer noch an „Zwölftöner“ (100 Jahre alt!) oder die Nachkriegsavantgarde (immerhin 70 Jahre alt) und stellen sich neue Musik als etwas furchtbar Kompliziertes für einen kleinen Kreis von Experten vor. Sogar bekannte Journalisten benutzen Klischees wie „Darmstadt“ (die 70 Jahre alten „Ferienkurse“) oder „Donaueschingen“ (die 100 Jahre alten „Musiktage“), ohne je dort gewesen zu sein, ohne zu wissen, wie man das schreibt, welche Musik dort gespielt wird und welche Vielfalt diese Art von Festival inzwischen bietet. Was sich in diesem Kunstbereich in den letzten 20, 30, 40, 50 Jahren alles abspielt, von Schönklang bis Punk, läuft weitgehend unter „Musicians’ musicians“, wie man im Jazz zu Geheimtipps in Musikerkreisen sagt. Aber genau um das zu ändern, gibt es ja ein Festival wie Wien Modern, wo ein breites Publikum die großen Meilensteine der letzten Jahrzehnte und die spannenden jüngeren Szenen entdecken kann, auch wenn man nur mal kurz hineinschnuppert. Heuer gibt es beispielsweise Hans Werner Henzes 1968er-Skandalstück „Das Floß der Medusa“ (50 Jahre alt), Gérard Griseys „Les Espaces acoustiques“ (30–40 Jahre alt), Peter Eötvös „Chinese Opera“ und György Kurtágs „Kafka-Fragmente“ (30 Jahre alt) sowie 73 Ur- und Erstaufführungen von Olga Neuwirth, Iris ter Schiphorst und Katharina Klement bis zur ganz jungen Generation. Viele tolle Stücke, die sich sehr gut als Einstieg eignen.

Das Thema des heurigen Festivals lautet „Bilder im Kopf“. Welche sollen damit erweckt werden bzw. was war Ihre Idee zu diesem Motto?
GÜNTHER: Musik regt ja schon immer Assoziationen an, setzt die Fantasie in Gang. Aber dass das in der Musik in den 1970er Jahren ein Generationswechsel war, fast eine Revolution junger Klangfarbenerfinder gegen das „Bilderverbot“ der Nachkriegsavantgarde, hat sich noch nicht genug herumgesprochen. Die französische Spektralmusik beispielsweise greift ganz tief in den Farbtopf, formt den Klang als konkretes sinnliches Phänomen, benutzt poetische Werktitel wie bei Debussy (wie Tristan Murails „13 Farben der Abendsonne“ am 30.11.) und lässt sich von Gemälden inspirieren. Ganz besonders Hugues Dufourt, zu hören am 3.11. im MuseumsQuartier mit dem Starbühnenbildner Enrico Bagnoli und den Percussions de Strasbourg, am 4.11. im Claudio Abbado Konzert oder am 17.11. mit einer abendfüllenden Übersetzung des größten Deckengemäldes der Welt. Das Spektrum heuer reicht von Film mit Live-Musik – Abel Gances sensationellem „J’accuse“ von 1918/1919 mit der packenden neuen Musik von Philippe Schoeller, am 31.10.gespielt von den Wiener Symphonikern – bis zu „Kopfkino pur“ wie bei Olga Neuwirths Surround-Sound-Illusion „Le encantadas“ im MuseumsQuartier am 20.11. mit Ircam und Ensemble intercontemporain.

Wie charakterisieren Sie das Festival Wien Modern?
GÜNTHER: Sehr bunt, sehr vielfältig, sehr widersprüchlich. Einen Monat lang zeigt sich das Musikmuseum Wien von seiner innovativen, überraschenden Seite. Das Schaufenster zur internationalen Welt der neuen Musik und zugleich die größte österreichische Szeneplattform im experimentellen Bereich.

Wie finanziert sich ein doch anspruchsvolles Nischenfestival wie Wien Modern?
GÜNTHER: 2016 lagen wir bei rund 2/3 Förderungen von Stadt Wien und Bundeskanzleramt plus immerhin 1/3 Karteneinnahmen, Koproduktions- und Stiftungsmitteln sowie Sponsoring, Tendenz steigend. Unser künstlerisches Budget (ohne Personal, Infrastruktur, Kommunikation und Marketing) ist höher als die Förderung von Bund und Stadt. Ich habe letztes Jahr erstmals dem Kartenverkauf eine tragende Rolle im Budget zugewiesen, was bei ständig wechselnden Sälen und Formaten und dem wirtschaftlich eigentlich unmöglichen Wien-Modern-Generalpass keine leichte Aufgabe ist. Aber wir müssen und können erfolgreich Karten verkaufen – auch in dieser Hinsicht hat Wien Modern eine weltweite Ausnahmestellung unter den Festivals in diesem Genre.

Wo sehen Sie die Abgrenzung von Kunst zu Mainstream?
GÜNTHER: Wenn man als Hörer aus dem Bereich herausfindet, wo der Tagesbedarf an Musik nur mit globaler, industrieller Massenware gedeckt wird, wird es sofort viel spannender. Wie viele Schritte es dann noch sind bis dorthin, wo Musik tatsächlich anfängt, eine Form der zeitgenössischen Kunst zu sein, ist auch eine persönliche Stilfrage. Aber der erste Schritt ist der entscheidende: Hin zum Handgemachten, bei dem sich jemand etwas überlegt hat, das zum Nachdenken inspiriert und hinter dem Herzblut und Erfindergeist steckt. Da geht die Musik erst richtig los.

wienmodern.at, 31. Okt.-1. Dezember 2017
Foto: nafezrerhuf