So klein sind die Lügen gar nicht, die die Erzählerin in diesem in den US hymnisch gelobten Debütroman, ohne Reue erzählt. Es geht um Ivy Lyn, die als Säugling bei der Großmutter in China zurückgelassen wurde und erst mit 5 Jahren zu ihren in die USA ausgewanderten Eltern nachkommen darf. Eingeschüchtert von ihrer Umgebung, flieht sie sich in die Welt der Bücher und in die Erinnerungen an die Großmutter. Mit Beginn der Pubertät entdeckt das junge Mädchen ein Talent, das allen verborgen bleibt. Sie ist eine ausgesprochen wahrhaftige Lügnerin, die von allen unterschätzt wird und dadurch noch krimineller werden kann. Verstärkt durch die strenge, chinesische Erziehung ihrer Mutter, die nur durch die Anwesenheit der ebenfalls nachgekommenen Großmutter ein wenig gelockert wird.
Diese gibt ihr den für sie wichtigen Rat, dass nur Eigenständigkeit und Opportunismus zu einem erfolgreichen Leben führen. Im Erwachsenenalter begegnet Ivy wieder ihrem ehemaligen Schwarm, der aus einer gutsituierten Bostoner Familie stammt und in ihr offenbar die perfekte, zukünftige Frau sieht. Bis plötzlich ein Mann aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr gesamtes Leben infrage stellt. Im Alleingang könnte er Ivys Lügengerüst ins Schwanken bringen. Dennoch kann sich Ivy ihm nicht entziehen.
Die Geschichte ist so geschickt aufgebaut, dass beide Seiten ihr Fett wegkriegen: der Lebensstil der US-Chinesen wird genauso kritisch beäugt wie der der WASPs, auf der einen Seite der unabdingbare Drang zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg, auf der anderen Seite der oberflächliche Pseudoliberalismus. Manche Kapitel tragen nicht viel zur Logik der Geschichte bei, aber geben immerhin Einblick in eine andere Lebensweise und zum Schluss hin, fährt Susie Yang noch ganz große Kaliber auf. Vorgetragen von Vanida Karun vergehen die 12 Stunden Hördauer wie im Flug.
Susie Yang: Die kleinen Lügen der Ivy Lin (der Hörverlag). Gelesen von Vanida Karun. Euro 15,-