Psychologische Großmeisterinnen

Zeitgleich erscheinen als Taschenbuchausgabe zwei Bücher von verstorbenen Schriftstellerinnen, deren Handlungen in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts spielten und die beide psychologische Meisterwerke sind. Die Rede ist von Elsa Morante mit „Aracoeli“ und Vita Sackville-West mit „Unerwartete Leidenschaft“. Beide Frauen mussten lange auf ihre literarische Anerkennung warten (Morante wurde oft nur als Ehefrau von Alberto Moravia genannt, Sackville-West eher als Gartengestalterin oder Freundin von Virginia Wolf), aber diese wird nun bestehen. Man ist erstaunt, mit welcher Subtilität brutale Geschichten erzählt werden können, mit wieviel Psychologie die Charaktere ausgestattet werden und wie ohne jegliche Tabus über Sex, Geld und Gier geschrieben wurde. Oder ist unsere Zeit einfach viel prüder geworden?

In dem wuchtigen Roman „Araceli“ geht es um die selbstzerstörerische Liebe eines Sohnes, dessen Mutter, die schöne Aracoeli, ihrer großen Liebe nach Rom folgte. Dort wird Manuel geboren, doch mit der Geburt und dem frühen Tod einer Schwester endet die überbordende Liebe der Mutter zu Manuel. Aracoeli verändert sich, sie wirft die mühsam erworbenen Umgangsformen der feinen Gesellschaft über Bord und wird zur unberechenbaren Nymphomanin, die im Bordell endet. Fassungslos sieht das Kind dem Geschehen zu, erst der reife Mann beginnt rückblickend zu begreifen …
Wie einsam dieser Manuel sein ganzes Leben war, wie ausgestoßen nicht nur durch seine starke Sehschwäche, wie verzweifelt er sich nach Zärtlichkeiten sehnt, wird von Seite zu Seite spürbarer. Abgestoßen, angezogen – in diesem Gegensatzpaar ist die ganze Geschichte enthalten. Ein psychologisches Meisterwerk.
Elsa Morante: Aracoeli (Wat) Euro 20,-

Waren es bei Morante Großbürger, stehen bei Vita Sackville West einmal mehr die englischen Adeligen auf dem Tapet. Lady Slane ist 88 Jahre alt, als sie erkennt, dass sie sich in ihrem ganzen Leben bisher nur nach ihrem Mann gerichtet hat. Kaum ist er tot, trifft sie zum ersten Mal eigene Entscheidungen.
Sie gibt ihr riesiges Haus mit Angestellten auf, lässt ihre Kinder nur noch nach Terminabsprache ein, knüpft an alte Bekanntschaften an und verschenkt eine geerbte Kunstsammlung. Ihre Kinder sind empört…
Das klingt eventuell nach Rosamunde Pilcher, aber im Grunde geht es um die Emanzipation einer Greisin, die voll kluger Gedanken auf ihr Leben zurückbleibt. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wäre sie ihrem Herzenswunsch, Malerin zu werden, nachgekommen? Als loyale Vertreterin der gehobenen Gesellschaft gibt sie sich keiner Illusionen hin, aber wenigstens hat sich in dieser Beziehung die Welt weitergedreht.
Vita Sackville-West: Unerwartete Leidenschaft (Wat) Euro 13,-