Als das Karmeliterviertel noch nicht chic war

Wer sich heutzutage aufgrund der rasanten, gesellschaftlichen Veränderungen verloren fühlt, der sei getröstet: sogar im gemütlichen Wien in den 1960-er Jahren wurden die Menschen von Entwicklungen überrollt, die ihnen teils ihre Existenz raubten und doch wussten sie sich zu arrangieren. Zumindest im neuesten Roman von Robert Seethaler, der selbst im heute chicen Karmeliterviertel im 2. Wiener Bezirk aufwuchs, als es damals noch Kohlehändler, stinknormale Märkte, Fleischhauer, keine U-Bahnen und ein Café ohne Speisen gab.
Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sich die Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue, und auch Simon lässt sich mitreißen. Er pachtet eine Gastwirtschaft und eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar, und genau genommen ist es gar kein richtiges Café, doch die Menschen aus dem Viertel kommen, und sie bringen ihre Geschichten mit – von der Sehnsucht, vom Verlust, vom unverhofften Glück. Sie kommen auf der Suche nach Gesellschaft, manche hoffen sogar auf die Liebe, und während die Stadt um sie herum erwacht, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben.
Seethaler lässt eine verloren geglaubte Epoche wiederauferstehen, es passieren keine großen Dramen, es gibt keine spannenden Twists und trotzdem verfolgt man hingerissen, diese ca. 10 Jahre umfassende Zeit, in der sich teils sehr skurrile Personen in dem Café ohne Namen trafen.
Matthias Brandt zeigt sich einmal mehr als wandlungsfähiger Vortragender, in dem er den verschiedenen Personen unterschiedliche Stimmen gibt und – obwohl es eine zutiefst wienerische Geschichte ist – nimmt man dem vorlesenden Deutschen jedes Wort ab.

Robert Seethaler, „Das Café ohne Namen“. (Claassen Verlag). Gelesen von Matthias Brandt (Hörbuch Hamburg) Euro 24,-