Aufschrei der deutschen Musikindustrie

Einen offenen Brief an die Bundestagsabgeordnete und zentrale Minister:innen  Deutschlands übermittelt der Bundesverband Musikindustrie e.V. im Namen seiner Mitglieder.
Hier der Text im Wortlaut:

Sehr geehrte/r Herr/Frau …

Wie Sie wissen, will das Bundeskabinett zeitnah die Umsetzung der europäischen DSM-Richtlinie (Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt) in deutsches Recht diskutieren. Würde das Gesetz in der aktuell vorliegenden Fassung tatsächlich umgesetzt, wären Künstler:innen und Urheber:innen die großen Verlierer eines an entscheidenden Stellen erschreckend realitätsfernen Gesetzesvorhabens. Und ihre Partner – darunter die Musikwirtschaft und weite Teilbranchen der Kultur- und Kreativwirtschaft – gleich mit. Dass sich viele Künstler:innen und Urheber:innen aufgrund der Anti-Corona-Maßnahmen auch ohne dieses Gesetz schon in einer prekären Lage befinden, kommt nur noch erschwerend hinzu.

Wir, die Unterzeichnenden, möchten Sie deshalb im Namen unserer Branche und ihrer Künstler:innen und Urherber:innen dringend und inständig bitten, Ihren Einfluss geltend zu machen und darauf hinzuwirken, dass dieses Gesetz in Einklang mit der europäischen DSM-Richtlinie gebracht wird, die endlich Augenhöhe zwischen den Online-Plattformen und den Kreativen und ihren Partnern herstellt und damit die Selbstbestimmung der Künstler:innen und Urheber:innen respektiert, bestehenden Businessmodellen keinen irreversiblen Schaden zufügt und einen wirklichen Beitrag zur Stärkung der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft leistet.

Die DSM-Richtlinie ist ein historischer Erfolg zur Sicherung der kulturellen Vielfalt – setzen Sie das nicht aufs Spiel!

Und wirken Sie bitte darauf hin, dass dieser Erfolg nicht durch einen deutschen Sonderweg zunichte gemacht wird, der die Zukunft der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft preisgibt! Der BMJV-Entwurf verhindert nicht nur die angestrebte Harmonisierung des europäischen digitalen Binnenmarktes. Er führt ohne Not zu einer nicht nachvollziehbaren weiteren Stärkung der Online-Plattformen – deren Verantwortung an anderer Stelle, wenn es etwa um Verschwörungstheorien  oder Hassrede geht, inzwischen doch gefordert und etabliert wird.

Vor allem aber entzieht der deutsche Ansatz Künstler:innen, Urheber:innen und uns, ihren musikwirtschaftlichen Partnern, im digitalen Raum de facto die Kontrolle über unsere Werke. Werke, für deren Entwicklung und Herstellung wir jedes Jahr erheblich ins Risiko gehen, während uns die Refinanzierung dieser Investitionen am Markt nun zum einen erheblich erschwert, zum anderen gänzlich verwehrt wird.

Es reicht (leider) nicht, um eine volkswirtschaftlich starke Branche zu erhalten!

Die Musikwirtschaft, zu deren Kern unsere Branchen, die Labels und Musikverlage, gehören, ist ein erheblicher volkswirtschaftlicher Faktor: Hier arbeiten rund 160.000 Menschen, im Vor-Corona-Jahr 2019 wurden Gesamterlöse von 13,6 Milliarden Euro und eine Bruttowertschöpfung von rund 5,2 Milliarden Euro erzielt. Der Musikbereich ist damit zweitstärkster Wirtschaftszweig innerhalb der Medienbranche nach den Fernsehveranstaltern.

Damit dieses Ökosystem auch in Deutschland in Zukunft weiter gedeihen und für kreative Inhalte, Bruttowertschöpfung und Arbeitsplätze sorgen kann, brauchen wir hier die korrekte Umsetzung der europäischen Urheberrechtsrichtlinie. Ohne sie haben unsere Unternehmen in der Plattform-Welt des Internets keine Chance. Die Richtlinie verpflichtet große Online-Plattformen nach zwei Jahrzehnten endlich, reguläre Lizenzen für die Nutzung kreativer Inhalte zu zahlen. Länder wie Frankreich oder die Niederlande setzen sie in diesem Sinne um.

In Deutschland dagegen ignorieren und konterkarieren der „Regierungs-Entwurf“ des BMJV vom 23. November 2020 ebenso wie die Folge-Anpassungen, die nun offenbar in das Bundeskabinett Eingang finden sollen, den auf europäischer Ebene gefundenen Kompromiss. Und das, obwohl wir gemeinsam mit den benachbarten Kreativbranchen in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder auf die juristischen und wirtschaftlichen Kritikpunkte hingewiesen haben.

Jede Sekunde zählt!

Deep Purple brauchen für ihr weltbekanntes Riff von „Smoke On The Water“ neun Sekunden, Beethoven für den unverwechselbaren Anfang seiner 5. Sinfonie („Tatatataaa“) nur drei. Die Wirkung, die Musik auf uns hat, ihr künstlerischer und mithin ihr ökonomischer Wert haben nichts mit ihrer Länge zu tun. Warum glaubt der aktuelle Gesetzesentwurf – im krassen Widerspruch zur EU-Richtlinie! –, hier eine willkürliche Grenze definieren zu können, unter der eine Nutzung generell erlaubt sein soll und eine kollektive Vergütung über eine Verwertungsgesellschaft vorgeschrieben wäre? Künstler:innen und Urheber:innen verlören die Autonomie, über die Verwendung und Vermarktung ihrer Werke selbst zu entscheiden. Und die Musikwirtschaft verlöre ein bestehendes und wahrscheinlich auch zukünftige Businessmodelle. Denn auf beliebten Online-Plattformen wie beispielsweise TikTok betragen die Längen verwendeter Inhalte oft nur wenige Sekunden, weshalb etwa die Lizenzierung sogenannter Sieben-Sekünder akzeptierte Geschäftspraxis ist – zumindest Stand heute. Auch der Europäische Gerichtshof hat den Wert kürzester Ausschnitte übrigens bestärkt: Nach der Entscheidung „Metall auf Metall“ sind selbst 2 Sekunden einer Rhythmus-Sequenz lizenzpflichtig.

Es wäre ein fataler Irrweg, wesentliche Teile dem Lizenzmarkt zu entziehen und im Wege einer Zwangskollektivierung den Verwertungsgesellschaften zuzuteilen!

Wir möchten betonen, dass wir nicht generell gegen Verwertungsgesellschaften sind. Sie haben ihre legitime Rolle, dürfen aber einen funktionierenden Primärmarkt mit etablierten Lizenzketten nicht torpedieren. Kollektivierung führt weder zu mehr Gerechtigkeit in der Einkommensverteilung, noch ermöglicht man damit die notwendige Entwicklung immer neuer Geschäftsmodelle. Ein Beispiel: YouTube-Sperrtafeln, Sie erinnern sich. Jahrelang konnten Musik-Videos in Deutschland nur beschränkt gesehen werden – obwohl diese von den Musikfirmen längst lizenziert waren, eine Einigung mit der GEMA fehlte hingegen. Letzteres war dem Umstand geschuldet, dass YouTube nicht bereit war, die Songwriter über die GEMA angemessen zu bezahlen. Warum will man in Deutschland nun ohne Rechtsgrundlage die Privilegierung von Zitaten, Parodien, Karikaturen oder Pastiches überdehnen, um einen funktionierenden Markt zu einem Großteil ausgerechnet in die Hand der Verwertungsgesellschaften zu geben?

Sind wir inzwischen nicht mehr in der Lage, ehrlich zwischen Meinung, Information und Unterhaltung zu unterscheiden?

Auch beim Thema Meinungs- und Kunstfreiheit müssen wir Klartext reden. Beides sind wesentliche Grundrechte. Für beides steht unsere Branche. Bei ihrer Ausübung dürfen jedoch nicht die Rechte anderer so tiefgreifend beschnitten werden, wie es der aktuelle Entwurf vorhat. Braucht man (jenseits der selbstverständlich respektierten „Rechte“ rund um Zitat, Satire und Pastiche) wirklich die Inhalte Dritter, um seine Meinungsfreiheit auszuüben? Wir fordern mehr Respekt für unsere Branche – für die Inhalte, die sie schafft; für ihre Innovationskraft, die ihr auch im Pandemie-Jahr eine gewisse digitale Resilienz beschert hat; und für die Menschen, die all das leisten.

Der „Direktvergütungsanspruch“ legt die Axt an Lizenz- und Geschäftsmodelle der Kreativbranche!

Der Direktvergütungsanspruch ist nicht mit EU-Recht zu vereinbaren und er stellt einen Verstoß gegen die Vertragsfreiheit dar. Das hilft auch nicht den Künstler:innen. Denn auch sie wollen mit ihren Rechten selbst und über ihre Labels am Markt handeln können. Der Entwurf geht aber noch weiter. Ohne jeden Rechtsgrund sollen zusätzlich auch die Rechte der Produzenten und sonstigen Hersteller dem freien Markt komplett entzogen und allein der Verwertung durch Verwertungsgesellschaften zugänglich gemacht werden. Folge: Keine Verträge mit YouTube, TikTok, etc. Damit ignoriert man seit Jahren etablierte Lizenzsysteme, verhindert Innovation und schafft letztlich einen neuen Value Gap – und das ausschließlich in Deutschland, wo inzwischen 75 Prozent des Branchenumsatzes aus digitalen Geschäftsfeldern stammen. Der digitale Binnenmarkt wird fragmentiert, also nicht harmonisiert. Genau das ist aber doch eines der Kernanliegen der Richtlinie!

Überlassen Sie die Lizenzentscheidung nicht den Nutzer:innen selbst!

Das sogenannte Pre-Flagging, bei denen die Nutzer:innen selbst angeben, ob die von ihnen eingesetzten Werke Dritter lizenzpflichtig sind, öffnet Missbrauch Tür und Tor. Auch dieser Punkt muss dringend überarbeitet werden.

Wir appellieren an Ihre Verantwortung gegenüber der kulturellen und wirtschaftlichen Zukunft vieler Künstler:innen und Urheber:innen sowie großer Branchenteile. Lassen Sie es nicht zu, dass global agierende Internet-Unternehmen durch die Ausnutzung willkürlich eingeführter Ausnahmen und Schwellenwerte aus der Verpflichtung entlassen werden, individuelle Vereinbarungen im Sinne einer fairen und selbstbestimmten Lizenzierung zu schließen.

Künstler:innen, Urheber:innen und ihre Partner wie die Musikwirtschaft vertrauen auf Ihre Unterstützung als letzte Möglichkeit, das sich abzeichnende Drama für die Kultur- und Kreativwirtschaft noch in letzter Minute abzuwenden.

Eine „Reparatur“ durch Sie als Gesetzgeber im parlamentarischen Verfahren kann sonst kaum gelingen.
https://fuerdiemusik.com/