DAS Gesprächsthema auf Kamtschatka

Eine US-Amerikanerin schreibt eine Geschichte, die in der Gesellschaft der Ureinwohner Kamtschatkas spielt und man ist hingerissen!
An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr.
Die Autorin Julia Philipps, die 2011 ein Jahr auf der fernen, östlichsten Halbinsel Russlands lebte, schrieb fast 10 Jahre an diesem Buch, das meisterhaft konstruiert ist und eine Allgemeingültigkeit besitzt. Egal, wie die äußeren Lebensumstände sind, in welche Gesellschaft man hineingeboren ist, menschliche Empfindungen wie Trauer, Zweifel, Verletztheit oder Einsamkeit sind auf der ganzen Welt gleich. Obwohl die Geschichte – für uns im Westen Lebenden – in einem exotischen Ambiente angesiedelt ist, nämlich beim indigenen Volk der Ewenen, die noch immer von Fischfang und Rentierzucht leben, fühlt man sich mit den Frauen sehr vertraut. Sie alle wollen raus aus der Enge und einige erhoffen sich Perspektiven im 7.000 km entfernten Moskau oder St. Petersburg, doch – so viel sei verraten,-  besser wird es dort auch nicht. Die handelnden Figuren sprechen von den Russen als den Weißen, sind Fremden gegenüber höchst misstrauisch und sind unklar, wie sie mit dem Zerfall der indigenen Gemeinschaften umgehen sollen.  Die alten Bräuche pflegen oder doch lieber die Annehmlichkeiten einer Konsumgesellschaft akzeptieren?
Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt Julia Phillips uns in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane. Bis zum Schluss hängt man an den Worten und würde so gerne wissen, wie es in der Fantasie der Autorin weitergeht. Als Serie wäre eine 2. Staffel vorprogrammiert!
Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde (dtv) € 22,-