Wer hätte gedacht, dass man einen Roman, der vor 170 Jahren erschien und damals zu den meistgelesenen seiner Zeit gehörte, in einer aktualisierten From heutzutage genauso dringend braucht wie damals?
Es geht um David Copperfield, den der Autor Charles Dickens nahe an sein Leben angelegt hatte und der sich vom Waisenkind in ein respektiertes Mitglied einer Gesellschaft hinaufarbeitet. Diese Ausgangslage hat Barbara Kingsolver verwendet, um eine heutige Copperfield – Geschichte zu erzählen. Viele Figuren aus dem Original spielen auch in dieser Fiktion eine Rolle und für Fans werden sich viele Namensähnlichkeiten sofort erschließen, für alle anderen, ist es unbedeutend, da die wuchtige Geschichte sich selbst trägt.
Ein Trailer in den Wäldern Virginias. Das Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der Hillbilly-Cadillac-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups, aufgegeben von sämtlichen Superhelden und dem Rest der Nation. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt – die Mutter ist noch ein Teenie und frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein Junge mit kupferroten Haaren, großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen, bei allem, was das Leben für ihn bereithält: Armut, Pflegefamilien, Drogensucht, erste Liebe und unermesslichen Verlust.
Der Ich-Erzähler ist ein Kämpfer, dem so viel Böses widerfährt, dass er gar nicht erkennen kann, wenn es jemand gut mit ihm meint und immer meint, er müsse alles alleine stemmen. Zum Glück ist er ein sehr vifes Kerlchen, durchschaut die Menschen und bringt sich selbst doch immer wieder an den Abgrund. Schuld daran ist eine institutialisierte Armut aufgrund der Schließung von vielen Bergwerken in diesem Teil der Appalachen, die in der Gegend zwischen Virginia, Kentucky und Tennessee zu einer der größten Menge an Opoidsüchtigen führt. Auch David gehört zu den Opfern, der aufgrund einer schweren Knieverletzung von verantwortungslosen Ärzten viel zu viele, starke Schmerzmittel erhielt, von Oxygen bis Fentanyl und immer mehr in die Abhängigkeit hineinrutscht. Eine Spirale nach unten, die seiner Mutter und vielen Freunden das Leben kostete. „Es ist nicht natürlich, dass Jungs den Verstand verlieren, das passiert nur, weil ihnen zu viel genommen worden ist“, heißt es an einer Stelle so treffend-lakonisch.
Leider dringen diese wahren Worte zu Demon erst spät durch, denn der arme Junge sucht die Schuld am Versagen immer nur bei sich und nicht – wie Kingsolver subtil aufzeigt bei der Gesellschaft.
Ein großes Lob gebührt dem Übersetzer Dirk van Gunsteren, der dieses umfangreiche Werk kongenial in eine heutige Sprache übertrug, ohne sich irgendwie anzubiedern. Ganz große Klasse wie es gelingt, ein solch armseliges Leben in ein wunderbares Leseerlebnis überzuführen.
Barbara Kingsolver: Demon Copperhead (dtv) Euro 26,- Fabian Busch leiht ihm im Hörbuch seine jugendliche, einprägsame Stimme.