Gab es dieses Szenario wirklich schon vor 100 Jahren?

Ein Schnellschuss kann diese umfangreiche Geschichte von Nobelpreisträger Orhan Pamuk nicht gewesen sein und trotzdem wirkt sie fast tagesaktuell.
Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt.
Diese fiktive Insel im Mittelmeer steht wahrlich symbolisch für die Spaltung, die auch unsere Gesellschaft 2021 entzweite. Einerseits Nationalisten, die an Verschwörungen glauben, andererseits eine aufgeklärte Gesellschaft, die mehr dem Ruf der Ärzte und Wissenschaftler folgen möchte. Weil aber Pamuk ganz und gar in der Tradition orientalischer Geschichtenerzähler verhaftet ist, flieht man gern in seine Welt und lässt unsere Realität zumindest in der Hörbuchversion 30 Stunden beiseite. Man fühlt sich direkt auf die Insel versetzt, hat die Dörfer und ihre Bewohner vor Augen und leider manchmal auch den bestialischen Gestank der Pestbeulen fast in der Nase.

Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest (Hanser Verlag) Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Ungekürzte Lesung mit Thomas Loibl, Juliane Köhler (der Hörverlag) Euro 30,-

Lesung von Orhan Pamuk am 24.3. im Wiener Konzerthaus.