Kleinstadtleben unter der Lupe

Für deutschsprachige LeserInnen gibt es den Trost, dass noch nicht alle sechs Romane von Kent Haruf übersetzt wurden, dh. es besteht die Hoffnung, dass noch weitere Bücher des 2014 verstorbenen US-Autors auf den Markt kommen. Alle seine Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado, in der man zwar nicht leben möchte, aber das Schicksal der Protagonisten endlos verfolgen könnte.
Im vorliegenden Buch geht es um die letzten Tage des krebskranken Dad Lewis, der von Frau, Tochter und Nachbarinnen liebevoll auf seinem letzten Kampf unterstützt wird. Alle Figuren sind einfache, normale Menschen, die sich den Herausforderungen des Lebens stellen müssen. Es passiert überhaupt nicht viel, aber Haruf gelingt es mit Schilderungen wie dem gemeinsamen Bad der Frauen Fröhlichkeit und Zusammenhalt zu evozieren, genauso wie er latente Homophobie und Fremdenhass anhand der nächtlichen Spaziergänge des Reverend aufblitzen lässt. In den Passagen über den Kirchenmann kann man auch erkennen, dass Haruf als Sohn eines Pfarrers aufwuchs und ganz genau die christliche Lehre kennt. In einer Schlüsselszene über die Bergpredigt lässt er den Reverend sagen: „Deshalb kennen wir Befriedigung, die sich im Hass verbirgt, die Lust süßer Rache. Wie gut es sich anfühlt, mit jemand abzurechnen.“
Der Autor selbst aber lässt seine Figuren ungeschoren, keiner wird verurteilt, alle werden mit ähnlicher Aufmerksamkeit bedacht. Und Haruf-Fans freuen sich, wenn sie in den Geschichten Personen wiedererkennen, die schon in einem anderen Buch vorkamen.
Kent Haruf: Kostbare Tage (Diogenes)