„Mein Insta war voller Sumpf- und Gemüsefotos“

Mitte Mai erschienen unzählige, euphorische Besprechungen über den neuen Wälzer des französischen Autors Mathias Enard. Wann haben die KollegInnen damit zu lesen begonnen? Er selbst saß mehr als 10 Jahre an diesem Buch und das ist nicht verwunderlich, denn Enard nimmt uns auf eine jahrhundertlange Reise mit.
Es beginnt alles ganz harmlos mit den Tagebuchaufzeichnungen eines Pariser Anthropologen namens David, der für eine Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert in den mittleren Westen von Frankreich zieht. Diesen Landstrich durchquert man höchstens, wenn man ans Meer nach La Rochelle fährt, ansonsten gibt es außer kleinen Dörfern und Einkaufszentren in dieser landwirtschaftlich hochgenutzten Sumpfebene nichts. Das fällt auch David recht bald auf, aber nachdem er vom Bürgermeister, der gleichzeitig der Totengräber der Gegend ist, in die tägliche Aperitivrunde aufgenommen wurde, erkennt er mehr und mehr die Qualitäten, die ein Leben abseits Paris bietet. So weit, so normal, aber dann kommt der gewaltige Mittelteil der Geschichte und die hat es in sich.
Es werden alle Vorgeschichten der Bewohner aufgerollt, von Hexenverbrennungen über Kriege bis hin zu Verwandlungen der Menschen in Bettwanzen. Enard gelingt eine kühne Fahrt durch Raum und Zeit mit komödiantischer Lust erzählt. Man muss ob des Wissens und der Fantasie immer wieder innehalten, um all die Bilder zu verdauen, die fast origiastisch auf einem einströmen. Enard schätzt seine LeserInnen hoch ein, wenn er meint: „Im zentralen Teil sieht und versteht man alles, was David nicht versteht und über das Dorf nicht weiß: Figuren, deren Geschichte er nicht kennt, was um ihn herum geschieht, und die Dimension der Zeit, der langen Geschichte all derer, die ihm in diesem Dorf seit der Römerzeit vorausgegangen sind … Das Forschungsjournal bildet das 21. Jahrhundert ab; der Rest ist das Rad der Zeit.
Der Mittelteil ist fast wie ein Lexikon, man kann beliebig wo aufschlagen und wird Neues erfahren. Dass einem dabei nie langweilig wird, ist dem Humor und Schreibstil Enards geschuldet und der großartigen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller. Seinen Anthropologen lässt er zerknirscht sagen, dass „ich sie ( seine Freundin) schon wieder mit meiner Bildung überfuhr, mit einer ungehörigen Schulmeisterei“, aber wir LeserInnen wollen ja durch Bücher auch lernen. Ein fulminantes Buch für mehr als eine Saison!
Mathias Enard: Das Jahresbankett der Totengräber (Hanser Berlin); Euro 26,-